Wer einen Raum mit einem Bild von Su Yeon Shim betritt, wird von einer vorher nicht gekannten Impression umfasst. Der Raum verändert die gewohnte Eigenart. Noch bevor man sich intensiver mit der Malerei der Künstlerin befassen konnte, berühren die meist großflächigen Farbkombinationen und die Neugier weckenden Strukturen. Der erste Blick verliert sich in Raumillusionen, die sich in ihren Tiefen zu verändern scheinen, je länger man sich damit befasst. An dieser Malerei geht man nicht einfach vorbei, sie verführt zu hintergründigem Nachdenken.
Wer die Gelegenheit hat, mehrere Arbeiten von Su Yeon Shim nebeneinander zu vergleichen, erkennt schnell die konzeptionellen Elemente. Wenngleich nie Wiederholungen vorkommen und jedes Werk als Individuum erfassbar ist, so wird dennoch zwingend deutlich, dass sich die Künstlerin ein Gesetz ihrer Ausdrucksformen geschaffen hat, dem sie auch treu bleibt: Sie will große, meist quadratische Flächen mit Farben bemalen, die von ihren jeweiligen Gefühlen gemischt werden. Eine Farbe ist meist dominant, die aber Variationen, Abwandlungen, Kontraste zulässt. Veränderungen, Formen, Schatten, feine Mutationen muten an wie Diktate, die Geschichten erzählen. Nach denen sucht der Betrachter, findet sie vielleicht nicht, weil er sich in dem Versuch, die strukturellen Filigrane zu deuten, in egozentrischen Interpretationen verfängt.
Die Künstlerin schützt sich vor Ausuferungen, vor Übermut und allzu zittriger Vielfingrigkeit durch strenge Linien, durch geometrische linear gezogene Quadrate, die den äußeren Rand der Bilder im Inneren wiederholen- das Bild im Bild.
Hier verrät sie wohl ihr Vorbild, ihren Lehrer Günter Fruhtrunk, dem sie viel zu verdanken hat.
Er hat ihr den Weg zu individueller Eigenständigkeit gewiesen, er hat dazu beigetragen, dass Su Yeon Shim eine eindrucksvolle Künstlerpersönlichkeit geworden ist.
Ab 1992 nahm der künstlerische Werdegang von Su Yeon Shim neue Formen an, sie fand zu Erkenntnissen, die eine grundlegende Wandlung ihrer künstlerischen Anschauung bewirkten. Nach dem Tod von Fruhtrunk 1982 befasste sie sich intensiv mit dessen theoretischen, weltanschaulichen und philosophischen Gedanken, an erster Stelle mit jenem berühmten Vortrag, mit dem der Professor in der Aula der Münchner Kunstakademie an die Kunstöffentlichkeit appellierte und sich an die „Artikulation von Bedürfnissen junger Künstler“ wagte. In Su Yeon Shim fand eine Annäherung an die gegenstandslose Malerei statt; es war keine abrupte Wendung, sondern ein Klärungsprozess, der die Entwicklung ihrer künstlerischen Eigenständigkeit einleitete.
Mit der letzten Ausstellung zeigte Su Yeon Shim ihr neues Konzept, mit dem sie zu noch Tieferem, Verborgenem Brücken baut, um scheinbar Unüberbrückbares miteinander zu verbinden: Sie schreibt Texte aus der Diamant-Sutra* auf ihre Farbflächen, holt also eine 2500 Jahre alte buddhistische Lehre in unsere Gegenwart herein. Diese religiösen Texte, die sie mit Kohle oder Farbe auf ihre Bilder malt, werden wiederum mit Farbe übermalt, verwischt, worauf häufig nochmals die Texte geschrieben werden. Daraus entwickeln sich Veränderungen, lebendige Strukturen auf den Bildflächen. Die Schriften lassen in ihrer Lesbarkeit nach, vermehren dadurch aber ihre bildnerische Aussage
(„…So öffnet sich ein Spannungsfeld zwischen Präzision und Spontaneität…“).
Sie schreibt dieselben Textstellen oft wieder und es gelingt nicht, sie exakt identisch darzustellen, womit die Künstlerin darauf verweist, wie sehr sich „alles Sichtbare wieder verändert und wandelt“. Es entsteht eine mystische Stimmung, was auch oft durch die Titel, die sie den Bildern gibt, noch vertieft wird:
Mondlicht im Tempel
Flammenblüte
Kerzenlicht
Schimmer
der Bräutigam vom John. Evangelium
die Öffnung
der Fluss unter dem Fluss
die Laterne
die Wiese
das Horchen auf die Bewegung
Su Yeon Shim selbst will dies aber nicht als Programm werten, schließlich bleibt nur die Frage nach dem Wesentlichen und nach der Wirklichkeit. Diese Suche der Wirklichkeit ist der Trieb meiner Gestaltung“).
Dr. Franz Forchheimer